archiv-2009

Geräte steuern - mit der Macht der Gedanken

Forscherteam will Gehirnimpulse einer Heimbewohnerin in Steuersignale umwandeln

Buchholz - Marion Olbertz versteht zwei Sprachen. Ihr Verstand ist hellwach. Und sie hat eine Meinung zum Geschehen um sie herum, doch sie kann sich nicht äußern - weder mit Worten, noch mit Gesten. Die 52-jährige Bewohnerin des Reha-Hauses Buchholz leidet unter dem Locked-in-Syndrom. Eine Hirnblutung hatte Ende der 1990-er Jahre viele Funktionen ihres Körpers bis auf die Tätigkeit des Großhirns außer Kraft gesetzt. Mit der Außenwelt kommuniziert sie über ihre Augen, deren Lider sie noch bewegen kann und über einige Laute, die sie zustandebringt.

Eine neue Technik - in dieser Form noch nirgends auf der Welt erprobt - soll Marion Olbertz künftig die Möglichkeit geben, mehr Einfluss auf ihre unmittelbare Umgebung zu nehmen. Erstes Ziel ist es, mit Hilfe der Gedanken, durch die Kanäle des Fernsehers zu zappen. Ein Forscherteam um Prof. Dr.-Ing. Gerhard Schmidt von der Technischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, das durch den Neurologen Dr. Klaus Gehring aus Itzehoe unterstützt wird, entwickelt eine spezielle Software, die die Muster der Gehirnimpulse auswertet. Über ein Headset können bereits jetzt - wie bei der Elektroenzephalografie (EEG) - Teile der Hirnströme, die sogenannten langsamen kortikalen Hirnpotenziale, von der Kopfoberfläche in Echtzeit an einen Computer weitergeleitet werden.

Jetzt kommen die Doktorandin Alina Santillán Guzmán und der Student Sami Almasri ins Spiel. Die beiden Forscher arbeiten an einem Computerprogramm, das die Muster erkennt und auswertet. "Dazu muss Frau Olbertz lernen, bestimmte Arreale ihres Gehirns willentlich zu aktivieren. Sie könnte zum Beispiel - auch wenn das gar nicht funktioniert - daran denken, den rechten Arm zu bewegen. Wenn sie dies wiederholt, können wir wahrscheinlich ein Muster bei den Ableitungen erkennen und herausfiltern", erläutert Prof. Schmidt.

Wenn dies gelingt - und die Chancen stehen nicht schlecht - kann ein solches Muster als Steuerbefehl an eine Schnittstelle weitergeleitet werden, über die die Fernbedienung eines herkömmlichen Fernsehgeräts aktiviert werden soll. Tatsächlich gibt es hierbei ein zunächst banal erscheinendes Problem: Es gibt keine Fernbedienung auf dem Markt, die sich mit einem PC verbinden ließe. Insofern muss auch da noch an einer Lösung gefeilt werden.

In den kommenden Monaten wird der gebürtige Syrer Sami Almasri im Rahmen seiner Master-Arbeit das Programm weiterentwickeln und dabei auch im Reha-Haus mit Marion Olbertz üben. Vor Ort wird er dabei von der examinierten Fachkraft Saskia Raeder unterstützt, die einen engen Kontakt zu der Bewohnerin hat und ihre Wünsche sehr gut deuten kann. Zum Abgleich mit den dabei gewonnen Daten wird in der Praxis von Dr. Gehring ein aktuelles EEG der Heimbewohnerin abgeleitet, das die Hirnströme exakt darstellt. Denn: Die Gehirnimpulse eines Menschen sind ähnlich individuell wie ein Fingerabdruck. Und bis zur Serienreife dürfte es noch ein weiter Weg werden.

"Wir unterstützen das Projekt mit allen uns zur Verfügung stehenden Kräften. Schließlich können auch unsere Bewohner eines Tages von den Ergebnissen profitieren", erklärt Reha-Haus-Geschäftsführer Ernst Fischer. Der Impuls für das ehrgeizige Vorhaben ging ursprünglich von Fischers Sohn M. Sc. Martin Fischer aus, der als früherer Student von Prof. Schmidt und mit naturgemäß guten Kontakten zum Heim die Idee für das Projekt entwickelte.

Das Projekt wird bislang kaum oder gar nicht von staatlicher Seite bezuschusst. Fischer, Prof. Schmidt und Dr. Gehring suchen daher gemeinsam nach einer Stiftung oder einem Forschungszuschuss, der eine Weiterentwicklung ermöglicht. "Immerhin lässt sich so unter Umständen ein bedeutender Durchbruch in der Forschung erzielen. Und in nachfolgenden Schritten könnten die Hirnströme auch zur Steuerung anderer Geräte genutzt werden" wirbt Dr. Gehring für Zuschüsse.

Auch Marion Olbertz steht eine spannende Zeit bevor. Da Sami Almasri vor allem englisch spricht, sind ihre Sprachkenntnisse vor ihrer Krankheit gefordert. Sie muss zudem konzentriert üben, um möglichst eindeutige Impulsmuster zu erzeugen. Der Lohn für die Mühe ist ein kleines Stückchen unabhängigkeit vom Pflegepersonal, wenn sie ihr Fernsehprogramm selbst steuern kann.